Aktuellen Studien zufolge erfassen 41 Prozent der Schweizer regelmäßig digital ihre tägliche Schrittanzahl, während 24 Prozent der Deutschen Smartwatches oder Fitnesstracker nutzen. Daraus erhellt, dass der Hype um die Selbstvermessung längst nicht verebbt ist. Und das ist so schlecht beileibe nicht. Immerhin hadern 52 Prozent der deutschen Erwachsenen mit ihrem Aussehen. Nichts lieber sähen sie, als ihre überschüssigen Pfunde ehestens loszuwerden.

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Selbsterkenntnis durch Zahlen
Wer auf den Spuren von Leonardo da Vinci wandeln und als vitruvianischer Mensch in die Annalen eingehen will, wird sich über kurz oder lang der Quantified-Self-Bewegung anschließen. Neu ist dabei der Trend zur Selbstvermessung wahrlich nicht. Immerhin sind Spitzensportler seit alters an der Aufzeichnung und Analyse ihrer Blutwerte, Ernährungsgewohnheiten und Trainingseinheiten* interessiert. Und spätestens mit Weight Watchers hat sich denn der Hang zur Selbstoptimierung auch zum Mainstream gemausert. Nur wirklich bekannt wurde die Selbstvermessung, auch Quantified Self oder kurz QS genannt, erst durch Gary Wolf und Kevin Kelly, die beiden Gründer des amerikanischen Tech-Magazins »Wired«. 2007 haben sie die QS-Bewegung ins Leben gerufen. Devise: Self knowledge through numbers.
Seither spielt die Welt verrückt. Einerlei ob Körperfett, Blutdruck, Schlafdauer, zurückgelegte Schritte oder gemachte Liegestütze: Alles rund um die körperliche Fitness wird akribisch erfasst und umgehend via Twitter oder Facebook geteilt. Selbst gelesene Buchseiten und laufende Konsumausgaben mischen neuerdings im QS-Hype mit.
Schluss mit Trägheit und Unlust
Schenkt man den WHO-Experten Glauben, reichen bereits 10.000 Schritte am Tag hin, um das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall und Diabetes merklich zu senken. Nachdem rund 5,7 Millionen Deutsche an Typ-II-Diabetes laborieren, sollte die Anschaffung eines Fitnesstrackers eigentlich die reinste Selbstverständlichkeit sein. Immerhin ist es ein offenes Geheimnis, dass bewegungsfaule Menschen dank der technischen Helfer ihren Arsch hochkriegen.
Mehr noch aber ist es die QS-Gemeinde der sozialen Netzwerke, die motiviert und den erwünschten Gewichtsverlust oder Muskelaufbau in greifbare Nähe rückt. Schließlich wollen sich die wenigsten Selftracker eine Blöße geben. Siehe Bart De Witte. Der gebürtige Belgier und Gründer der HIPPO AI Foundation hat anno Tobak 18 Monate lang sein Gewicht und seinen Blutdruck getwittert und sich damit lästiger 15 Prozent seines Körpergewichts entledigt.

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Gleich dem Stützrad eines Fahrrads erübrigt sich das Tracking-Tool, sobald der Selbstvermesser bestens über seinen Körper Bescheid weiß und ihm die nötigen Bewegungs- und Ernährungsumstellungen* zur zweiten Natur geworden sind. Ebendie müssen aber nicht zwingend allein die Optik verbessern. Vielmehr sind sie für nicht wenige Selbstvermesser der Weg in die Schmerzfreiheit. Wenn eine Arthrose für schmerzende Handgelenke sorgt und eine zu eiweißreiche Ernährung dafür verantwortlich zeichnet, liegt es nur in der Natur der Sache, dass der Bodybuilder seine Essgewohnheiten Knall auf Fall ändert. Und sollte er sich zudem bemüßigt fühlen, der Übersäuerung des Körpers, einer weiteren möglichen Ursache seines Leidens, mit einem pH-Meter zu Leibe zu rücken, ist er nolens volens Mitglied der QS-Gemeinde. Damit wird er aber leben können, wenn, wie im besagten Fall, die Schmerzen nach 6 Wochen der Vergangenheit angehören.
Selbstoptimierung auch ohne Autographer
Richtig in Fahrt gekommen ist die Quantified-Self-Bewegung unstreitig mit den Apps. Im App Store wimmelt es nur so von Apps für Fitness und Gesundheit, den Ton geben aber im Prinzip bloß drei Produkte an: Samsung Health mit einem Bekanntheitsgrad von 37 Prozent, Runtastic mit einem Bekanntheitsgrad von 34 Prozent und Fitbit mit einem Bekanntheitsgrad von 31 Prozent.

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Es heißt, dass 45 Prozent der Fitbit-Tracker ihr Gerät unentwegt nutzen und sich ohne Unterlass über ihre Daten ins Bild setzen. Das mag sich verrückt anhören, gemessen am Lifelogging, dem neuesten Schrei der QS-Bewegung, ist Fitnesstracking aber zweifelsohne harmlos.
Lifelogger treibt die Angst um, sich nicht jedes denkwürdigen Moments in ihrem Leben erinnern zu können. Ergo gehen sie her und zeichnen es mit einer Minikamera, genannt Autographer, auf, die sie sich um den Hals schnallen. Von 4,5 Millionen Freaks dieses Schlags ist allein in Großbritannien auszugehen, so einschlägige Marktprognosen. Dass dabei die Sensoren der Kamera selbst entscheiden, was als denkwürdiger Moment zu empfinden ist, entschuldigt nicht wirklich diese Idiotie. Immerhin haben damit Nachrichtendienste ein Argument mehr zur Hand, das Leben Unschuldiger durch schamlose Datenschutzverletzungen gehörig aufzumischen.
Tummelplatz für Hypochonder und Enthusiasten
Ungeachtet aller Vorzüge der QS-Bewegung* werden die Stimmen der Kritiker nicht verstummen. Allein schon deshalb, weil Fitness- und Gesundheitstracker das Zeitproblem der Ärzte nicht lösen. So versteigt sich der amerikanische Krebsforscher H. Gilbert Welch zur Behauptung, dass unreflektierte Dauerbeobachtung im Verein mit mangelndem Wissen à la longue unweigerlich in eine Flut von Hypochondern münden werde. Schon jetzt hat ein Arzt im Schnitt keine 10 Minuten Zeit für ein Gespräch mit seinen Patienten. Woher also die Zeit nehmen für den wachsenden Interpretationsbedarf von Selbstvermessern mit Daten, die einer Erklärung harren?

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Die Bedenken der Datenschützer sind hingegen leicht zu entkräften. Immerhin hat eine repräsentative Umfrage der SPLENDID RESEARCH GmbH 2019 unter 1193 Deutschen zwischen 18 und 69 Jahren ergeben, dass gegen entsprechende Vergünstigungen und Extras 58 Prozent der Befragten ihre Gesundheitsdaten ungeniert Ärzten zur Verfügung stellen würden. Satte 51 Prozent würden in diesem Fall Krankenkassen den Datenzugang erlauben und immerhin noch 25 Prozent hätten gegen eine Monetarisierung ihrer Gesundheitsdaten durch Sportartikelhersteller nichts einzuwenden.
Das Potenzial der QS-Bewegung ist laut Sportmediziner Lutz Graumann aber ohnehin noch längst nicht ausgereizt. Schließlich gilt Quantified Self gemeinhin als Grundstein zur individualisierten Medizin*. Während also bisher Patienten regelmäßig mit einer Pauschaltherapie vorliebnehmen mussten, würden individuelle Daten eine medikamentöse Dosierung ermöglichen, die den speziellen physischen und psychischen Bedürfnissen des Patienten Rechnung trägt. Dass das keine Utopie ist, beweist die Blutzuckerüberwachung von Diabetikern schon jetzt. Ohne unentwegte Erfassung der eigenen Werte wäre hier an eine den Umständen angemessene Medikation nicht zu denken.
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