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  • Collin Coel

Arrangierte Ehe: Alles andere als archaisch

Aktualisiert: 25. Sept. 2022

Weltweit sind schätzungsweise 50 Prozent der Ehen arrangiert, in Indien allerdings satte 90 Prozent. Ein Land, das über 38 UNESCO-Welterbestätten gebietet und mit 9 Nobelpreisträgern China in nichts nachsteht, muss zwangsläufig etwas richtig machen. Dass auch für die arrangierte Ehe in Indien die Statistik spricht, verrät ein Blick hinter die Kulissen.


Eheringe auf rosa Rosenbouquet

Quelle: Olessya auf Pixabay


Hoch im Kurs


Längst sind die Zeiten vorbei, da die Adligen unter sich blieben und Bürgerliche für die Heiratspolitik der Königshäuser kein Thema waren. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, mit diesen arrangierten Ehen Zwang und Kuhhandel zu assoziieren. Ja, de facto wurden bis ins frühe 19. Jahrhundert in Mittel- und Westeuropa Ehen ganz generell arrangiert. Alle Welt war auf rein ökonomische Interessen fixiert. Dass die Liebe kein Garant für eine Dauerbeziehung* ist, ist an sich nichts Neues, anno Tobak war sie jedoch allenfalls eine willkommene Begleiterscheinung des Ehebunds. Es überrascht deshalb wenig, dass die Liebesheirat als Ausfluss der Romantik (1795–1835) auf eine vergleichsweise kurze Geschichte zurückblickt.


Zwar mag die Liebesheirat auch in Indien auf dem Vormarsch sein, Fakt ist nichtsdestotrotz, dass sie dort nach wie vor einen schweren Stand hat. Wenn sich 2013 74 Prozent der 18- bis 35-jährigen Inder für die arrangierte Ehe aussprachen, erübrigen sich weitere Worte.

Rückenansicht von rothaariger Braut mit Brautstrauß

Quelle: melancholiaphotography auf Pixabay


Gleichklang gefragt


Phasen der Verliebtheit, die Teenager üblicherweise durchleben, kennt die arrangierte Ehe in Indien nicht. Dafür läuft die Suche der Verwandten, Bekannten und Agenturen regelmäßig ganz getreu der Matching-Hypothese auf das Aufspüren eines ähnlichen Partners* hinaus. Funken die künftigen Eheleute auf der gleichen Wellenlänge, ist davon auszugehen, dass die Ehe hält.


Inder, die bereits mit der arrangierten Ehe Erfahrungen gemacht haben und unter der Haube sind, wissen nur zu gut, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familien Gegenstand der Untersuchung sind. Zwingend muss das Gesamtpaket passen. Unvereinbarkeiten von Angebot und Nachfrage punkto Kaste, Religion und Beruf duldet die Heiratspolitik ebenso wenig wie ein ungünstiges Horoskop. Dementsprechend dick im Geschäft sind die Astrologen. Devise: Hauptsache, das Horoskop bescheinigt dem potenziellen Partner die Kompatibilität. Fürs Kennenlernen ist nach der Hochzeit noch genug Zeit. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass ein Kandidat mitunter nach wenigen Tagen feststeht. Ja, bei Tage besehen reichen ab und an wenige Ferngespräche und ein Videointerview hin, um den Bund der Ehe zu schließen.


Im Ruch der Zwangsehe


Nicht von ungefähr werden arrangierte Ehe und Zwangsehe häufig in einem Atemzug genannt. So sind nicht einmal bei einer absoluten Spitzenfrau wie einer 28-jährigen Zahnärztin Sonderwünsche drin. Es ist ihrer Mutter schnurz, ob der künftige Schwiegersohn Tiere liebt oder mehr Pepsi als Coke schlürft. Solange der Gute Mediziner ist und die religiösen Ansichten der Familie teilt, ist für die Frau Mama alles im grünen Bereich.


Den Druck der Familie zur raschen Eheschließung hat auch besagte Zahnärztin gespürt. An sich zählt sie aber zu den Gewinnern des Systems. Fakt ist nämlich, dass es in der arrangierten Ehe um die Chancengleichheit schlecht bestellt* ist. Namentlich behinderte, arme und ungebildete Menschen bleiben auf der Strecke. Ja, realiter genügt eine dunklere Hautfarbe, um in Indien auf dem Heiratsmarkt das Nachsehen zu haben. Mehr noch aber wiegt womöglich die Tatsache, dass sich die Kinder in die Umstände fügen müssen und den Auflagen der Eltern zu genügen haben. Insbesondere Frauen aus der Unterschicht haben nichts zu melden. Nicht weniger schlimm sind stockkonservative Familien. Auch da wird das Patriarchat großgeschrieben und entscheidet allein das Familienoberhaupt über das Wohl und Wehe der Tochter.

Besser als die Liebesheirat


Nachdem arrangierte Partnerschaften stabiler als Liebesehen* sind, hat Indiens Heiratspolitik die volle Aufmerksamkeit des Ökonomen. Zwar ist auch die deutsche Scheidungsrate rückläufig und hat sich zwischen 2015 und 2019 von 41 auf 35,8 Prozent verringert, gemessen an Indien sieht das Land dennoch alt aus. Immerhin lassen sich in Indien lediglich 13 von 1000 Ehepaaren scheiden.


Die Crux mit der Liebesheirat ist schlicht die Vergänglichkeit der Liebe. Im Rausch der Verliebtheit übersehen Paare viele Störfaktoren des Partners, die sich nach und nach zu unüberbrückbaren Differenzen mausern. In diese Liebesfalle tappen hingegen Partner arrangierter Ehen naturgemäß nicht. Die objektive, kritische Prüfung der Kompatibilität der Partner durch Dritte macht sich demnach bezahlt. Hinzu kommt, dass Indern die Wegwerf-Mentalität des Westens fremd ist. Speziell im Zeitalter des Internets gibt es Alternativen zuhauf, falls es mit dem einen Partner nicht klappen sollte. Zu rasch ist von daher mit einem Mausklick ein neuer Partner zur Hand. Auch ist angesichts der Fülle des Angebots die Versuchung naturgemäß groß, unausgesetzt nach einem besseren Exemplar Ausschau zu halten.


Nun ist fairerweise anzumerken, dass die niedrige Scheidungsrate Indiens nicht notwendigerweise Ergebnis der ausgezeichneten Vermittlungsarbeit ist. Vielmehr geht eine Scheidung regelmäßig mit einer empfindlichen Stigmatisierung einher. Vor allen Dingen erweisen sich aber Inder als ungemein flexibel. Wie kein Zweiter versteht es der Inder, sich den situativen Gegebenheiten anzupassen, was ihn zum Idealkandidaten für die arrangierte Ehe macht. Und sollte sich die arrangierte Ehe wider Erwarten wirklich als Schuss in den Ofen entpuppen, genießen die Eheleute die volle Unterstützung der Familien. Ebendie würden indes keinen Finger rühren, wenn sich ihre Kinder für eine Liebesheirat entschieden hätten.

Zwei Finger zweier Hände ein rotes Herz berührend vor blauem Hintergrund

Quelle: Gerd Altmann auf Pixabay


Mit Algorithmen ins gleiche Horn tuten


Dass arrangierte Ehen Vorteile haben, ist mithin nicht von der Hand zu weisen. Bei Tage besehen braucht allerdings niemand erst explizit mit einer arrangierten Ehe Erfahrungen zu sammeln, um sich über die Vorzüge der indischen Heiratspolitik ein Bild machen zu können. Wenn sich nachweislich gut 37 Prozent der Deutschen bereits wenigstens einmal im Leben auf ElitePartner, Tinder & Co um die große Liebe umgetan haben, hat die indische Planung der Partnerschaft längst schon hierzulande Fuß gefasst. Nur ist den wenigsten bewusst, dass die Algorithmen der Dating-Plattformen im Prinzip nichts anderes als die Arbeit indischer Familien und Partneragenturen machen. Anzunehmen, dass der Tag nicht mehr fern ist, da eine App mit einem Algorithmus aufwartet, der aus der Fülle der Daten den einen Idealpartner herausfiltert, mit dem der Bund fürs Leben garantiert ist.


* Unbezahlter Weblink (Eigenwerbung)

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