Zwar wird auch in Deutschland Twitter als der Bundestag der sozialen Medien gehandelt, Fakt ist nichtsdestotrotz, dass die Unionsparteien 2017 gerade mal 51 Prozent ihrer Bundestagsabgeordneten für den Kurznachrichtendienst begeistern konnten. Die Grünen brachten es damals immerhin auf stolze 88 Prozent. Gemessen an amerikanischen Gepflogenheiten hinken die deutschen Spitzenpolitiker dennoch weit hinterher. Höchste Eisenbahn, dass auch sie ihr Handy zum Sprachrohr erklären und auf Twitter für Gesprächsstoff sorgen.
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Mit dem Werbeverbot auf Distanz zu Facebook
Am 22. November 2019 räumte der damalige Twitter-Chef Jack Dorsey mit der politischen Werbung des Kurznachrichtendienstes auf. Falsche oder irreführende Botschaften waren damit zwar weiterhin denkbar, wenigstens war aber ihrer Verbreitung im Nachrichtenstrom von Nutzern, die den verlogenen Politikern ihre Gefolgschaft verweigerten, ein Riegel vorgeschoben. Namentlich deshalb war Facebook wiederholt ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. So sprach sich Facebook-Chef Mark Zuckerberg entschieden gegen die Überprüfung von Falschmeldungen durch unabhängige Dritte* aus und rechtfertigte die gezielte Verbreitung der Lügenpolitik einzelner Volksvertreter durch Werbung mit der Bedeutungslosigkeit politischer Werbeeinnahmen für den Facebook-Umsatz. Selbst mit den kolportierten 0,5 Prozent würden die Politiker mit ihren Werbemaßnahmen mehr als 300 Millionen Dollar jährlich in die Kassen von Facebook spülen.
Quelle: Sparsa Colligo auf Twitter
Naturgemäß geht es nicht an, dass Facebook, mit 2,45 Milliarden Nutzern das ungleich größere soziale Netzwerk als Twitter mit bescheidenen 330 Millionen Nutzern, einesteils einer Politik der Ehrlichkeit und Transparenz* das Wort redet, der ungenierten Verbreitung von Lügenmärchen andernteils aber scheint’s nicht wirksam begegnet. In Misskredit gerät Zuckerberg darob aber längst nicht. So sieht etwa der US-amerikanische Journalist Jeff Jarvis gerade durch das Twitter-Werbeverbot die Demokratie in Gefahr. Immerhin kämen Politiker durch den Wegfall der vergleichsweise billigen Werbung auf sozialen Medien nicht umhin, das sündteure Fernsehen für die Verbreitung ihrer Botschaften zu nutzen. Über diese nötigen Mittel würden aber namentlich kleinere Parteien oder politische Neueinsteiger mitnichten verfügen.
In den Fußstapfen von Obama und Trump
Barack Obama hat es 2007 aller Welt vorgemacht, welches Potenzial in Twitter steckt, Donald Trump folgte ihm 2016 auf dem Fuße. Während allerdings Obama mit »Change« auf einen Kurswechsel spitzte, hat sich Trump bekanntermaßen der Polarisierung verschrieben, um durch den Aufschrei der Nation auf sich aufmerksam zu machen und die Menschen zum Nachdenken anzuregen. Wenn selbst Indiens Premier Narendra Modi Wahlen durch eine ansehnliche Fangemeinde von 76,8 Millionen Twitter-Followern für sich entscheidet, fragt sich der politische Beobachter umgehend, warum sich Kanzlerin Angela Merkel 16 Jahre lang auf ein paar sporadische Twitter-Meldungen ihres Sprechers Steffen Seibert beschränkte und sich selbst in ihrer Amtszeit für jede 280-Zeichen-Kurznachricht zu schade war.
Quelle: TJ-Supporting our PM - Boris Johnson auf Twitter
Dass es neuerdings in Deutschland auch anders geht und Politiker und Twitter nicht getrennte Wege gehen, beweist Neo-Kanzler Olaf Scholz. Zwar hat er zur Stunde erst 501.700 Follower hinter sich geschart, die ihm auf dem Kurznachrichtendienst den Rücken steifen, was aber nicht ist, kann ja noch werden. Es müssen ja beileibe nicht gleich auf Anhieb die 131,2 Millionen Follower Barack Obamas sein, der unstreitig zu den Politikern mit den meisten Followern auf Twitter zählt. Nachdem es die erklärte Absicht von Scholz ist, auf Twitter seine Politik zu erläutern, müsste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn sich die ostentative Volksnähe nicht in einem Zuwachs der Twittergemeinde bezahlt macht. Nicht von ungefähr ist auch Papst Franziskus auf den Zug der Kundenorientierung aufgesprungen* und seit Beginn seiner Amtszeit auf Twitter aktiv. Ob denn diese Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in der Tat ihre Tweets selbst verfassen, steht natürlich auf einem anderen Blatt.
Politische Inhalte zählen
Zu punkten vermögen die Volksvertreter beileibe nicht mit allen Tweets gleichermaßen. Mit Allgemeinplätzen der Bussi-Bussi-Gesellschaft* haben Twitter-Nutzer der DACH-Region nichts am Hut. Vielmehr wollen sie umfassend informiert werden. Mithin messen sie lediglich jenen Spitzenpolitikern eine Bedeutung bei, die sich durch fundierte politische Beiträge hervortun. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Universitäten Genf, Basel, Amsterdam und Tilburg.
Quelle: Basel Institute on Governance auf Twitter
Die Gefahr, dass Spitzenpolitiker Deutschlands und der Schweiz Banalitäten auf Twitter von sich geben, ist ohnehin denkbar gering. So enthielten die untersuchten Twitter-Beiträge der 1700 Parlamentsmitglieder in diesen Ländern lediglich rund 5 Prozent Privates. Volksvertreter, die sich auf die Sache beschränken und ihre nichtigen Hobbys außen vor lassen, dürfen sich jedenfalls ungleich höherer Beliebtheitswerte erfreuen. Werden ausschließlich politische Themen behandelt, können Volksvertreter mit 57 Prozent Zustimmung rechnen. Packen sie hingegen Privates mit in ihre Tweets, finden bloß 42 Prozent der Wähler an ihnen Gefallen. Zumindest haben die 4300 Versuchsteilnehmer, die Tweets von fiktiven Politikern beurteilen mussten, in dieser Form entschieden. Nicht von ungefähr versteigt sich Politikwissenschaftlerin Stefanie Bailer, die Leiterin der Studie, zur Behauptung, dass der Tweet-Stil der Volksvertreter über Sieg oder Niederlage bei Wahlen entscheidet. Dass in den USA ein anderer Wind weht, versteht sich von selbst. So unterscheiden sich die Amerikaner allein schon durch ihr 2-Parteien-System, das naturgemäß deutlich personengebundener ist als die Parteienvielfalt der DACH-Region. Insofern liegt es nur in der Natur der Sache, dass amerikanische Spitzenpolitiker gut daran tun, von privaten Begebenheiten in ihren Tweets zu berichten.
Live-Videos besser als Kurznachrichten
Niemand bestreitet, dass Tweets nicht selten in Schlagzeilen überregionaler Zeitungen und Sender münden. Den schalen Beigeschmack werden die Tweets dennoch nicht los. Immerhin verleitet die Beschränkung der Kurznachrichten auf 280 Zeichen nicht selten zur maßlosen Übertreibung, mit der der Gehalt zwangsläufig auf der Strecke bleibt. Aus gutem Grund strapazieren Medienkritiker den Vergleich mit einer Zirkusshow, wenn sie von der Diskussionskultur auf Twitter sprechen. Kündigt Kanye West seine US-Präsidentschaftskandidatur an, fühlt sich selbst Elon Musk bemüßigt, seinen Senf dazuzugeben und dem Rapper seine Unterstützung zuzusagen. Und wenn Musk die Klappe aufreißt, ist für gewöhnlich Feuer am Dach. Zumindest haben Aktionäre gelernt, auf jedes Wort des Visionärs genau zu achten, um nicht Opfer von plötzlichen Kursstürzen zu werden. Insofern hat sich Musk nolens volens in der Reihe wichtiger Twitter-Accounts seinen Platz gesichert.
Quelle: Sarah B. auf Twitter
Es geht also um die Glaubwürdigkeit von Kurznachrichten, um die Gefahr einer Fehlinterpretation*. Live-Formate schließen solche Fehlinterpretationen von vornherein aus. Nicht von ungefähr arbeiten YouTube, Facebook und LinkedIn massiv am Ausbau ihrer Live-Formate. Wer live ist, kann Missverständnisse umgehend klären und damit unliebsame Folgen wie unerklärliche Kursstürze a priori verhindern. Volksvertreter, die also wirklich durchstarten wollen, sollten bei Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern Anleihen machen. Geduldig hat sie sich im Facebook-Livestream allen Corona-Fragen ihrer Wähler gestellt und damit dem Volk ihres Landes eine gehörige Last von den Schultern genommen. Namentlich junge Wähler fühlen sich von den etablierten Großparteien nicht mehr abgeholt und wünschen sich den direkten Dialog* mit ihren Volksvertretern. Politiker, die sich dafür zu schade sind, werden künftig ausgedient haben, wenn die Arderns Schule machen.
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