Während in Ecuador und Bolivien Buen Vivir eine neue Wirtschaftsära eingeläutet hat, macht im Himalaya-Staat Bhutan seit geraumer Zeit das Bruttonationalglück, kurz BNG genannt, von sich reden. Im Prinzip laufen beide Konzepte auf die Abkehr vom Bruttoinlandsprodukt als Maßgabe der Prosperität hinaus. Ungeachtet der Tatsache, dass sich selbst die OECD längst dem realen Wohlbefinden verschrieben hat, wird das BNG nach wie vor von manchen Wirtschaftsexperten milde belächelt.
Quelle: peteranta auf Pixabay
Von einer spontanen Wortmeldung zur fixen Idee
Es ist ein offenes Geheimnis, dass sich in Bhutans Wirtschaftsentwicklung von jeher die buddhistischen Werte widerspiegelten und die Zufriedenheit der Staatsbürger mithin seit alters ein Thema ist. So erhellt aus dem Rechtskodex des Landes von 1629, dass eine Regierung, die das Glück des Volkes nicht verbürgen könne, zu nichts nütze* sei. Spruchreif wurde das Bruttonationalglück dennoch erst 1979. Kein Geringerer als Jigme Singye Wangchuck, der vierte König Bhutans, hat den Begriff im Rahmen eines Interviews ins Spiel gebracht, um damit auf die vergleichsweise geringe Bedeutung des Bruttoinlandsprodukts in seinem Reich hinzuweisen. Bis aus dem Wortspiel allerdings ein handfestes Wirtschaftskonzept wurde, mussten weitere zwei Jahrzehnte ins Land ziehen. 1998 hat Premierminister Jigmi Y. Thinley die vier Säulen des Bruttonationalglücks definiert und dafür gesorgt, dass sich eine Staatskommission um die Umsetzung der Anliegen kümmerte. Seit 2008 ist das Bruttonationalglück Bestandteil der bhutanischen Verfassung.
Quelle: Pema Wangchen Wangdi auf Twitter
Vier Säulen als Fundament des Bruttonationalglücks
Gemeinhin gilt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Wert sämtlicher jährlicher Waren und Dienstleistungen eines Landes. 2019 durfte sich Deutschland damit rühmen, viertgrößte Volkswirtschaft der Welt zu sein. Über die Zufriedenheit der Deutschen sagt das BIP gleichwohl nichts aus. Im Gegenteil. Bringen etwa Naturkatastrophen unermessliches Leid über die Menschen, wirken sich die Kosten für den Wiederaufbau als Ausgaben positiv auf das BIP aus. Ähnlich verhält es sich mit der unabdingbaren ärztlichen Versorgung bei schweren Unfällen oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Auch bleiben externe negative Effekte wie Luftverschmutzung oder Umweltzerstörung in volkswirtschaftlichen Kennziffern wie dem BIP außen vor. Mit der Schattenwirtschaft hat das Bruttoinlandsprodukt so wenig am Hut wie mit der Subsistenzwirtschaft. Beispielsweise fällt die unbezahlte Pflegearbeit von Familienangehörigen schlicht und ergreifend unter den Tisch. Und wenn Konzerne ihre Gewinne in Irland günstig versteuern, während die Umsätze im Ausland erzielt werden, erfreut sich das irische BIP zwar eines enormen Wachstums, um das Wohlergehen der Iren ist es darob aber keinen Deut besser bestellt. Weit gefehlt mithin, zu glauben, dass ein gesundes Wirtschaftswachstum Indiz einer trefflichen Staatspolitik ist. Anders ausgedrückt befindet sich jeder auf dem Holzweg, der die gesellschaftliche Entwicklung nicht als Ausfluss von Materie, Kultur und Geist begreift.
Das Bruttonationalglück hat mit den vier Säulen alles im Gepäck, was das Herz begehrt. Es verbürgt ökologische Nachhaltigkeit, eine nachhaltige und gerechte wirtschaftliche Entwicklung, Gleichheit vor dem Gesetz und damit den Ausschluss einer korrupten Politik* sowie den Schutz von Kultur und Tradition. Seiner Aufgabe wird das BNG dann gerecht, wenn sich die Zahl der unglücklichen Bewohner eines Landes zusehends verringert.
Quelle: Kevin Kelly auf Twitter
Mit aufwändigen Umfragen zu konkreten Ergebnissen
Wenn es einer Horde von 55 Beamten bedarf, die sich 9 Monate lang um die 7142 Umfrageteilnehmer kümmern und die Beantwortung des Fragebogens im Schnitt 3 Stunden Zeit in Anspruch nimmt, steht Bhutans Datenerhebung unstreitig unter einem Unstern. Ein übertriebener wissenschaftlicher Anstrich gereicht mithin nicht zwingend zum Vorteil. Fakt ist freilich, dass der Fragebogen zur Ermittlung des Bruttonationalglücks mit 9 Domänen und 33 Indikatoren arbeitet, deren Auswertung nach der Alkire-Foster-Methode einen Index zwischen 0 und 1 liefert. Jeder Indikator wartet dabei mit einer Hinlänglichkeitsschwelle auf, die besagt, welcher Wert wenigstens überschritten werden muss, um als glücklich eingestuft zu werden*. Die Glücksschwelle hinwiederum verlangt, dass der Mensch in wenigstens 6 Domänen hinlängliche Ergebnisse liefern muss, damit er sich einen glücklichen Staatsbürger heißen darf.
Kritik ungeachtet sichtlich höherer Zufriedenheit
Bis dato hat es in Bhutan zwei valide Umfragen gegeben. Im halben Jahrzehnt zwischen 2010 und 2015 hat sich der Glücksindex um 1,7 Prozent von 0,743 auf 0,756 verbessert, womit 43,4 Prozent der Bhutaner als glückliche Menschen zu bezeichnen sind. Dieser Wert relativiert sich allerdings rasch durch die Tatsache, dass Bhutan mit einem BIP/Kopf von 3.431 US-Dollar 2020 gemessen an Deutschland mit einem BIP/Kopf von 45.466 US-Dollar weit hinterherhinkt und nach wie vor zu den ärmsten Ländern der Welt zählt.
Quelle: impradip auf Pixabay
Durch den freien Bildungszugang soll sich die Alphabetisierungsrate zwischen 2005 und 2015 zwar um kolportierte 12,05 Prozent auf rund 70 Prozent erhöht haben, ob dieser Erfolg aber als Ausfluss der BNG-Bemühungen zu werten ist, ist mehr als fraglich. Hinzu kommt, dass bedingt durch den sogenannten Hawthorne-Effekt die Ergebnisse der Befragung regelmäßig verfälscht sein dürften. Solange mit Unterdrückung und Korruption nicht restlos aufgeräumt ist, steht zu vermuten, dass sich die Umfrageteilnehmer mehr nach den Regierungswünschen richten, als herzugehen und ungeniert ihre Meinung kundzutun. Überhaupt scheint das Bruttonationalglück seine Vorteile zu verspielen, wenn bedeutende Indikatoren wie die politische Freiheit* lediglich mit einem Gewicht von 10 Prozent ins Ergebnis der Domäne einfließen und sich eine allfällige Unzufriedenheit in diesem Betreff mithin kaum merklich aufs Endergebnis auswirkt.
Ein Konzept macht Schule
Dass das Bruttonationalglück Vor- und Nachteile gleichermaßen hat, ist scheint’s kein Hindernis, bei den Bhutanern Anleihen zu machen. So hat der deutsche Bundestag bereits Ende 2010 dafür gesorgt, dass sich eine Enquete-Kommission Anfang 2011 unter dem Motto »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« um Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft umtut. In der Tat zeugen auch die W3-Indikatoren der Kommission als ganzheitliche Wohlstands- und Fortschrittsindikatoren von einer sichtlichen Abgrenzung zum BIP. Selbst dem französischen Ex-Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy war es ein Herzensbedürfnis, unter der Anleitung von Nobelpreisträgern nach Möglichkeiten zur Einbindung des Wohlergehens der Menschen in die Staatspolitik Ausschau zu halten. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) macht hinwiederum seit 2011 mit dem Better Life Index von sich reden. Dieser erlaubt den internationalen Vergleich der Lebensqualität. Von Bildung bis Sicherheit ist dabei mit 11 Schwerpunkten alles abgedeckt, was für eine angemessene Lebensqualität spricht*.
Ja, angesichts der Fülle der Indizes dräut neuerdings gar die Gefahr, den Überblick zu verlieren. Im Lichte der Ukraine-Krise scheint zur Stunde wohl der Failed State Index vermehrt die Aufmerksamkeit der Ökonomen zu haben. Nicht minder dürfte sie der Good Country Index interessieren, in dem Russland fürs Erste wohl kein Platz gesichert zu sein scheint. Immerhin gibt er Aufschluss über den Beitrag eines Landes zum globalen Frieden und Wohlstand. Selbstredend darf im Reigen der Indizes der Happy Planet Index nicht fehlen. Er informiert schlicht und ergreifend über die ökologische Effizienz, mit der ein Land sein Wohlbefinden generiert.
* Unbezahlter Weblink (Eigenwerbung)
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